Nordindien: Studien zu Chaos, Kultur und Kakophonie

Eine Frau auf einer Brücke in Nordindien

Ochsenkarren von links, Schwein von rechts, ein meterhoch mit Plastikflaschen beladenes Fahrrad von vorne, ein Moped mit einer ganzen Familie, voll gepferchte Busse und grün-gelbe Tuk-Tuks, schlafende Rinder am Mittelstreifen und bunt dekorierte Lastwägen, vermischt mit einem bunten Gewirr an Menschen,  dazu eine ununterbrochene Kakophonie von Hupen aller Tonlagen. Das glaubt mir keiner.

„Noch ein Firnbonbon gefällig? Wer braucht noch Wasser? Oder etwa einen Zug vom garantiert Bakterien tötenden Whiskey?“ – fröhlich geht es in dem Bus zu, der unsere kleine Gruppe auf eine Studienreise durch Nordindien trägt. Groß und deutlich ist der Bus an der Windschutzscheibe mit dem Wort „Tourist“ gekennzeichnet. Dafür gehen die Fenster auf und man kann herrlich hinaus fotografieren. Im Grunde ist es egal, ob man das Bild im Sucher komponiert, oder die Linse einfach auf das Chaos richtet und möglichst oft abdrückt. Ein Motiv scheint sich förmlich an das nächste zu reihen. Die einzige Gefahr sind die vielen pinkelnden Männer am Straßenrand, die den schönsten Schnappschuss unherzeigbar machen würden.

Parallele Welten

Heiligenschrein auf dem Armaturenbrett
Stundenlang – denn keine Überlandfahrt in Indien scheint jemals kurz zu sein – versuche ich die Dinge vor dem Busfenster mit meinen Augen einzufangen, zu ordnen und dadurch zu begreifen. Zu den farbigsten und schrägsten Momentaufnahmen denke ich mir kleine Geschichten aus. So ist die verschleierte Schöne in Gelb mit ihrer Mutter auf der Suche nach einem passenden Sari für ihre Hochzeit, und die weißhaarige Frau mit dem fahrbaren Gemüsestand schimpft gerade mit ihren Enkelsöhnen, weil sie dem letzten Kunden zu wenig verrechnet haben. Nach einer Weile kommt es mir so vor, als wäre der Innenraum des Busses die eine, und das Leben da draußen eine zweite Welt, die aneinander vorbeiziehen, dabei aber nichts miteinander zu tun haben. Wir mit unseren Erfrischungstüchern, nagelneuen Smartphones, Hand-Desinfektionssprays und teuren Kameras; staunend, beobachtend. Vor dem Fenster: aber so was von Indien, mit allen Düften, miefenden Kloaken, leuchtenden Farben, unfassbarem Prunk und Armut à la Les Misérables , üppigen Obstständen, Haufen von Plastikmist und emsig wirkenden Menschen. Nur ganz selten weichen die urbanen Wirbel einer Flusslandschaft oder Ebene, in denen wieder die Langsamkeit regieren darf.

Verkehrte Welt

Heiligenschrein auf dem Armaturenbrett
Der Verkehr ist nicht nur (links)verkehrt sondern besser als jeder Krimi. Tausend Mal denkt man „das kann sich nicht ausgehen“ und doch – immer wieder winden sich alle aneinander vorbei. Was so spielerisch aussieht, macht sich in der Statistik gar nicht gut: bei Verkehrsunfällen verlieren in Indien jährlich 100.000 Menschen ihr Leben, meistens sind es Fußgänger. Uns kann theoretisch nichts passieren, denn unser Chauffeur Goldy, ein Sikh mit Turban und einem prächtigen schwarzen Bart, hat seinen kleinen Altar am Armaturenbrett,  den er fast täglich mit frischen Blumenketten aus orangen Tagetes schmückt. Jeden Morgen zündet er davor Räucherstäbchen an, die dem Geruch nach auch gegen Gelsen wirken könnten. Das Mini-Altarbild zeigt die Göttin Parvati, die Gefährtin des Gottes Shiva. Sie gilt als gütige Mutter, kann jedoch auch als rachesüchtige Göttin Kali in einem Rock aus abgeschlagenen Armen auftreten. Gut, dass Goldy sie in ihrer dritten Inkarnation favorisiert, nämlich der auf einem Tiger reitenden Durga, die alles Böse bekämpft.

Die Welt nach Om

Und schon wären wir bei der Komplexität der allumfassenden kosmischen Ordnung, die unser Reiseleiter Om während der langen Busfahrten beharrlich in uns hineinpaukt. Er spricht nicht nur nahezu perfekt Österreichisch, sondern erweist sich als Fachmann für Hinduismus, sattelfest in den Veden und dem Mahabharata-Epos. Bald sind uns die Götter und Göttinnen vertraut, wenn auch nicht alle kolportieren 33 Mio. Darüber hinaus verfügt Om über ein umfassendes Wissen zu allen erdenklichen Themen von A bis Z, inklusive dem Kamasutra. Nur bei M wie Maharaja merkt man genau, dass er die seinem Land gerne erspart hätte. Vielmehr ist er ein glühender Verfechter bodenständiger Kultur, die in den Dörfern Indiens lebt, wie auch 70% aller Menschen. Seit Oms Erklärungen bin ich mir ziemlich sicher, schon 8,4 Mio. Mal wieder geboren worden zu sein. So lange dauert es nämlich, bis man ein Mensch ist. Ein mühsames Unterfangen. Dass aber selbst Brahma, Vishnu und Shiva Reinkarnationen mitmachen mussten, versöhnt mich wieder. Bestechend offen erzählt er von seinem eigenem Leben: „Als ich 24 war, rief mich mein Vater aus Orissa an und sagte mir, er würde meine Hochzeit arrangieren. Meine Braut sah ich zum ersten Mal, als sie nach der Zeremonie in mein Haus kam und den Schleier lüftete.“ Und wie ist die Ehe? „Danke,“ sagt er, „wir haben zwei Kinder, ich bin zufrieden.“

Überweltliche Architektur

Heiligenschrein auf dem Armaturenbrett
„Wer?“ frage ich mich, „Wer wird noch wem auf dieser Welt so ein Grabmal bauen wie Shah Jahan seiner geliebten dritten Frau?“ Ich gehe wie hypnotisiert auf den weißen Marmorbau zu, der über den Gärten zu schweben scheint. Jeder Schritt eröffnet eine andere, noch dramatischere Perspektive. „Eine Träne auf der Wange der Geschichte“ hat der große Dichter Rabindranath Tagore das Taj Mahal genannt, der es als erster Literaturnobelpreisträger Asiens schließlich wissen muss. Zu den himmlischen Bauten dieser Welt gehört auch das Rote Fort von Agra, in dessen prunkvollen Hallen, Shah Jahan, sein Leben fristen musste, nachdem ihn sein Sohn aufgrund seines Größenwahns einsperren ließ. Die Pläne seines liebeskranken Vaters, gegenüber vom Taj Mahal einen spiegelgleichen Prunkbau in schwarzem Marmor zu errichten, hätten sonst das Reich in den endgültigen Ruin getrieben. Ganz und gar nicht wie in dieser Welt fühlt man sich im zauberhaften Fort Amber bei Jaipur. Den Elefantenritt über die Serpentinenstraße lässt man jedoch besser im Sinne des Tierwohls aus. Die bernsteinfarbenen Befestigungsmauern bergen vier prunkvolle Höfe, einen Tempel, eine Audienzhalle und einen Spiegelsaal, allesamt Hinterlassenschaften der Rajputen. Jaipur, die Hauptstadt Rajasthans, kleidet sich seit dem 19. Jahrhundert grundsätzlich in Pink. Aus Marketinggründen, versteht sich. Das Zentrum des nordindischen Kunsthandwerks, mit seinen rosa getünchten Häusern, hat einkaufsfreudigen Touristen in der Tat einiges zu bieten, wenn nicht gerade die Händler streiken, um den Angriff internationaler Ladenketten abzuwehren. Jaipurs Stadtpalast und der Palast der Winde könnten nicht prächtiger sein.

Eine Maharani von Welt

Zwischen Agra und Jaipur zweigen wir von der klassischen Reiseroute in Richtung Süden ab und landen in der kleinen Stadt Karauli, die ich zuvor in sämtlichen Reiseführern vergeblich gesucht hatte. Ein strahlender 13-jähriger und sein kleiner Bruder steuern unseren Kamelwagen durch die engen Gassen, die von kleinen, höhlenartigen Geschäften und Werkstätten gesäumt sind. Der verlassene Stadtpalast hat mehr als nur den erwarteten morbiden Charme, vielmehr besticht er durch seine Größe und Pracht, feinste Steinbildhauereien, persische Intarsienarbeiten und zarten Malereien. Vom Dach sehen wir die pastellfarbenen Häuser der kleinen Stadt im Licht der untergehenden Sonne verblassen. Als Krönung unseres Karauli-Abenteuers checken wir im Bhanwar Vilas Palast, einem Kolonialbau aus den 1930er-Jahren, ein. Im Innenhof empfängt uns die Maharani, ihre Exzellenz Rohini Kumari, eine elegante Dame im dezenten roten Sari, die als Bürgermeisterin von Karauli auch viel Engagement für soziale Themen zeigt. Ihr Schwiegersohn leitet das Hotel, in dessen – noch mit den Originalmöbeln, Fotos und Gemälden der Familie ausgestatteten – Räumlichkeiten wir eine Nacht voller Ehrfurcht verbringen.

Welt der Tiger

Gerade war er noch da der Tiger. Die Fußspur ist frischSüdwestlich von Jaipur liegt der Ranthambore Nationalpark, in dem die theoretische Chance besteht, 43 der insgesamt 1411 Tiger Indiens zu sehen. „Diri, diri“ mahnt unser Wildhüter den Fahrer des Safaribusses zur Langsamkeit. Im Staub der Straße zeigt er auf einen frischen Fußabdruck. Weit kann er also nicht sein. Beim darauf folgenden, hartnäckigen Durchforsten der anmutigen Landschaft aus Wäldern, Seen und Flüssen zeigen sich weißgetupfte Chitals, Sambar Hirsche, Krokodile, Affen, Mungos und ein Wildschwein. Die Großkatzen scheinen das Rendezvous mit uns verschlafen zu haben. Vielleicht ist das gut so, denn in meinem Kopf schwirrt es. Acht Tage voller intensiver Eindrücke liegen hinter mir. Auf die oft gestellte Frage: „Sag, wie war es eigentlich in Indien?“ habe ich immer noch keine Antwort.

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