Natürlich gibt es viele Arten, eine tropische Insel wie Jamaika zu bereisen. Dorftourismus ist jene, die sich für Menschen eignet, die gerne nah am Geschehen sind, ohne dass viel geschehen muss. Für die, denen die Natur wichtig ist. Für die, die gerne sehen, riechen, hören und lernen. Und für alle, die sich in All Inclusive Resorts manchmal einsam fühlen und das endlose Buffet gerne einmal gegen einen Familientisch eintauschen.
Zum Stichwort Fremdenverkehr erscheint vor dem geistigen Auge der meisten Jamaikaner sofort das Bild von Touristen, die in einem der beliebten Resorts einigermaßen leblos am Strand liegen und die Sonne aufsaugen. Perfekt geschultes Personal liest jeden Wunsch von Ihren Augen ab. Sie wohnen in luxuriösen Hotelwelten, umgeben von modernem Schnickschnack, der sich per Fernbedienung steuern lässt. Oft ist es aber gar nicht das, was Besucher eigentlich suchen. Vielleicht würden manche der aus ihren Bürotürmen Entkommenen gerne ein paar von den 250 Vogelarten sehen, die in den Wäldern Jamaikas zwitschern und von wissenden Vogelkundlern ihre Namen erfahren. Ein Kolibri mit irisierend-grünem Federkleid, der so genannte „Doctor Bird“, wäre das perfekte Fotomotiv. Von den exotischen Pflanzen und Heilpflanzen, den herrlichen Orchideen und Früchten, die überall auf der Insel wachsen, ganz zu schweigen. Manche mögen vielleicht sogar ein paar Tage in einem Dorf verbringen und Seite an Seite mit den Menschen den Alltag erleben.
Flatterhafte Begegnungen
Todd liebt Schmetterlinge. Er und seine Frau Rosie stammen aus Wisconsin und sind Passagiere eines Kreuzfahrtschiffes, das im neuen Hafen von Falmouth angelegt hat. Die beiden haben sich fest vorgenommen, bei ihrem Landgang wenigstens einige der 31 endemischen Schmetterlingsarten zu sehen, die sie bisher nur aus Büchern kennen. Um ja keinen Moment des wertvollen Tages zu verschwenden, suchen sie schon im Vorfeld nach einer individuellen Tour. Was sie finden, übertrifft alle ihre Erwartungen. Ainsworth, ihr Guide führt sie durch die Hügel des wilden Cockpit Country, nur rund 25km landeinwärts. Er kennt jeden Stein auf dem Kalkstein-Plateau, weil er hier aufgewachsen ist. Keine Pflanze, kein Tier bleibt unerklärt. Inmitten der tropischen Hügellandschaft findet er mühelos die Plätze, wo sich prächtig-bunte Schmetterlinge tummeln. Todds Kamera klickt Hunderte Male. Doch das Schönste an diesem Tag ist der Empfang in Albert Town. Sie werden wie Familienmitglieder aufgenommen. Einige der Kinder des Dorfes zeigen ihnen stolz den Gemeinschaftsgarten, in dem viele der lokalen Gemüsesorten und Früchte mit neugierig machenden Namen wie Ackee, Guinep oder Ugli reifen. Als sie dann in der Küche des kleinen Holzhauses Platz nehmen, serviert Honey, die Hausherrin, einen so raffiniert gewürzten Hühnereintopf, dass beide noch lange an Bord davon schwärmen.
Eine Dosis Rasta
First Man, in jedem Sinn ein Intellektueller, arbeitet im Rastafari Indigenous Village im Montego River Valley. Bis zu dreimal wöchentlich empfängt er mit seinen Brüdern und Schwestern Gruppen bis zu 40 Besucher im Dorf. Nach einer wohltuenden Kokosmilch und einer kurzen Erläuterung, warum Rastas Haile Selassie als Gott verehren, Äthiopien das gelobte Land ist und sich alle vor Babylon (also dem ganzen Firlefanz wie Stress-Berufen, Finanzkrisen, Satellitenfernsehen, Konsumzwang… ) hüten sollen, dürfen sie an einer Führung durch den Garten teilnehmen, wo ausführlich die Wirkung mystisch klingender Pflanzen wie ‚Search me Heart’ oder ‚Guinea Hen’ erklärt wird. Der lokale Kräuterdoktor Kanaka kennt rund 300 Heilpflanzen, die Rastas als „Bush Tea“ zur Prävention von Krankheiten zu sich nehmen. Dann zeigt Angel, wie man sich als Rasta ernährt: kein Salz, kein Fleisch, dafür rohe Früchte und Gemüse, viele Kräuter und etwas gekochter Reis machen das „Ital-Food“ aus. Augenscheinlich tut es gut, denn alle im Dorf sehen sehr fit aus und strotzen vor Gesundheit. Immer treu zu sich selbst sein! Im Hier und Jetzt leben! Eins mit der Natur sein! Die Rastakultur trieft vor Lebensphilosophie, die sich auch in der souligen, in tiefen Trommelrhythmen verankerten Musik widerspiegelt und jedem Besucher Denkanstöße für das Weiterleben nach dem Rasta-Erlebnis gibt.
Dorfhüpfen mit Diana
In der Welt von Diana McIntyre-Pike ist stets viel zu tun. Die Pionierin des Dorftourismus, oder wie sie es nennt „Community Tourism“ hat umwelt- und sozialverträglichen Tourismus bereits mit der Muttermilch aufgesogen. Seit den späten 70-er Jahren entwickelt sie vielfach prämierte Ausflugsprogramme, die den Jamaika-Besuchern das Land abseits von Sand und Meer schmackhaft machen. Ausgehend von Mandeville, wo Dianas Mutter früher ein Gästehaus betrieb, hat sie Dörfer und Gemeinschaften auf der ganzen Insel vernetzt, die gerne Besucher aufnehmen und ihnen ihre Kultur, Küche, Geschichte, landwirtschaftlichen Techniken und vor allem auch die Natur zeigen. Übernachten kann man bei jamaikanischen Familien, in Homestays oder kleinen Hotels. Die Touren werden individuell auf die Interessen und das Budget der Gäste abgestimmt. Ein fixer Anteil der Einkünfte aus diesen Reisepaketen fließt automatisch wieder in die Projekte der Dorfgemeinschaften. Dianas nächstes Ziel ist es, große Hotelketten wie Sandals zu überzeugen, dass ihre Kunden auch einen Trip ins schöne Innenland verdienen. Ob man eher der Typ für den Besuch einer Kaffeeplantage in den Blue Mountains ist, in Beeston Spring Village einige Tage am Dorfleben teilnimmt, sich ornithologisch Federn verdienen will, auf der Suche nach seinem jamaikanischen Lieblingsgericht von Dorf zu Dorf hüpft, oder lieber mit den Maroons in Charles Town trommelt und tanzt, muss man selbst herausfinden.
Informationen
Dorferlebnisse von einigen Stunden über einen Tagesausflug bis hin zu mehrtägigen Aufenthalten vermittelt das Reisebüro Ihrer Wahl. Nähere Informationen über die wertvolle Arbeit von Diana McIntyre-Pike, die neben der Vermarktung der Touren auch beim Training der Dorfbewohner und der Entwicklung neuer Projekte mitwirkt und die Idee vom ländlichen Tourismus seit Jahrzehnten auch immer wieder international verbreitet, finden sich unter www.countrystylecommunitytourism.com.Das Rasta Indigenous Village informiert unter www.rastavillage.com.
Hingeschaut
Ein nicht unwesentlicher Anteil der rund 2,8 Millionen Inselbewohner leidet trotz des üppigen Bodens und der vielseitigen Kultur an ökonomischen und sozialen Problemen. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist 14 Jahre jung. Bei einem relativ hohen Preisniveau lebt jeder fünfte Jamaikaner unter der Armutsgrenze. Speziell gut ausgebildete Jamaikaner zieht es oft in die USA, Kanada oder England. Tourismus, Landwirtschaft und Bauxit sind die Haupteinnahmequellen, wobei sich der meiste Fremdenverkehr auf die Strände und Hotelanlagen an der Küste beschränkt, die meist ausländischen Investoren gehören. Für die Umwelt ist der Bauxitabbau eine große Bedrohung, denn die Minen nehmen riesige Landflächen in Anspruch und verschmutzen speziell die Region um Kingston mit gesundheitsschädlichem Staub. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich, nicht zuletzt durch den Tourismus, ein verstärktes Umweltbewusstsein entwickelt. Seit 2000 existiert ein eigenes Umweltministerium, etwa 9% der Insel steht unter Naturschutz. Dazu kommen mehrere Meeresschutzgebiete um die Pedro Inselkette und an den Korallenriffen.