Georgien gilt als eine der Wiegen der Zivilisation. Sehr früh vom Christentum geprägt, birgt das Land zwischen Großem und Kleinem Kaukasus eine prall gefüllte Schatzkiste an historischem Erbe, Kunst und Kultur. Die fruchtbaren Böden, das gute Klima und die strategische Lage alsVorderasiens vorgeschobener Posten hin zu Europa weckten von jeher Begehrlichkeiten. Die die Region beherrschenden Mächte wechselten. Das hinterließ Spuren, vielfältig auch in der Küche, und schlägt sich in der kollektiven Identität der Kaukasier nieder. Heute sieht man sich in Georgien gern als »Balkon von Europa«. Von einer Anlehnung an den Westen versprechen sich die Menschen Wohlstand, Stabilität und Anerkennung. Auf dem Gebiet des Tourismus steht letzteres außer Frage, lässt man die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien außen vor. Auf der Weltkarte des Reisens hat sich Georgien zu einem echten Hotspot entwickelt. Und das in einem waghalsigen Tempo.
Schein und Sein
Er habe sich sogar schon überlegt, Stepanzminda aus dem Reiseprogramm zu streichen, erzählt mir George Tevdorashvili, Hotelier und Reiseveranstalter in Georgiens Hauptstadt Tbilissi. Die Gäste kämen mit der Erwartung dorthin, einen abgelegenen alten Kirchenkomplex inmitten der Berge vorzufinden. »Sie sind dann enttäuscht, wenn zig Reisebusse dort herumstehen und sie auf Hunderte weitere Touristen treffen.« Doch ohne dieses Highlight könne er seine Touren nicht vermarkten. Die Gergetier Dreifaltigkeitskirche in einsamer Lage vor dem Hintergrund des schneebedeckten Kasbek-Gipfels sei schließlich »das Bild, das alle von Georgien kennen«. Die Katze beißt sich in den Schwanz: Der Tourismus wirbt mit Abgeschiedenheit, unberührten Landschaften und lebendigen Traditionen – und untergräbt alldies in der Wirklichkeit. 2018 werden fast sieben Millionen Touristen in Georgien gewesen sein. In nur einem Jahrzehnt hat sich die Besucherzahl etwa vervierfacht. Ein Trend, der dem Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger darin recht geben könnte, dass »der Tourismus das zerstört, was er zu finden hofft«. Natalia Bakhtadze-Engländer ist eine echte Macherin. Für den georgischen Ökotourismusverband organisierte sie eine Konferenz, zu der im vergangenen September Experten aus aller Welt nach Tbilissi kamen. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie sich das wachsende Interesse an Georgiens Attraktionen mit nachhaltiger Entwicklung in Einklang bringen lässt. Natalia sieht die Dinge durchaus kritisch. Da Geld die Welt regiere, würden weiter viele Projekte umgesetzt, die mit ihrer Vision, Natur und Kultur in den Reisezielen zu bewahren, nicht zusammengingen. Sie beklagt, dass die historischen Fassaden in der Altstadt Tbilissis bröckeln, während in Batumi an der Schwarzmeerküste der Turbokapitalismus immer mehr Hochhäuser mit Glasfassaden in den Himmel wachsen lässt. Doch es gibt auch echte Fortschritte. »Die zentrale Steuerung touristischer Aktivitäten wird immer professioneller«, schätzt die Veranstalterin ein. In Entwicklungsplänen für einige Schutzgebiete würde anhand von Indikatoren bereits klar abgesteckt, »was wünschenswert und was möglich ist«, erklärt sie. Solche Regelungen sollten als Blaupause für den Rest des Landes dienen. Man müsse genau im Auge behalten, wie sich Angebot und Nachfrage entwickeln, und, falls nötig, regulierend eingreifen. Die Strategie, mehr in die Breite zu wirken, fasst Natalia so zusammen: »Infrastruktur ausbauen, neue Zielgebiete erschließen, Angebote lokalverträglich entwickeln und das Marketing darauf fokussieren.« Ob das wirklich gutgeht? »Wird schon klappen«, hofft Natalia.
Nichts für Anfänger
Vor Beno Khetsuriani dürfte eine große Zukunft liegen. Der Mittzwanziger spricht fünf Sprachen, hat bereits in mehreren Ländern gelebt und studiert gerade in Saarbrücken Tourismusmanagement. Anschließend möchte er sich am liebsten selbständig machen. Vielleicht in seiner Heimat Georgien? Da ist er skeptisch. »Mein Herz hängt an dem Land«, betont Beno. Doch noch traue er sich das nicht zu. Dabei sieht er große Potenziale abseits der Sehenswürdigkeiten, würde gern vor Ort etwas bewegen. Die Arbeit in Georgien sei allerdings ganz anders, habe ihre Besonderheiten. Entscheidend sei es, in den lokalen Netzwerken Fuß zu fassen. »So was braucht seine Zeit«, schätzt Beno ein. Daher will er sich zunächst im Ausland beruflich etwas aufbauen und die Kontakte nach Georgien pflegen. Natürlich auch, weil hier im Westen die Einkommensmöglichkeiten besser sind. Geduld, Geld und Auslandserfahrung sollen seine Eintrittskarte sein, um eines Tages auf Europas Balkon Fuß fassen zu können.