Wenn ich an Estland denke, dann kommt mir zuerst ein Habjaas in den Sinn. Diese Form des Einbaums wird aus einem einzigen Stamm herausgearbeitet. Es ist ein aufwändiger Prozess: Der Stamm muss eine gewisse Größe aufweisen, darf nicht zu sehr verästelt sein. In den Sümpfen Estands wurden diese besonderen Boote traditionell genutzt, um über das Schwemmland zu fahren. Bevor das gelingt, muss der Stamm aufwändig ausgehöhlt, gespreizt und geteert werden. Ich bin mehrfach mitgewandert auf dem Weg, die Habjaas-Tradition durch die UNESCO zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklären zu lassen – was 2021 vermutlich gelingen wird. Es fühlt sich gut an, mit einem solchen Boot die Flüsse im Soomaa Nationalpark abzufahren. Man spürt die Wertschätzung, die dem Holzgefährt entgegengebracht wurde.
Das Baltikum ist grün. Weite Flächen unberührter Natur: Küste, Dünen und Wälder. Letztere bedecken in Estland fast 50 Prozent der Landesfläche und prägen damit das Bild, das Reisende vom nördlichsten der drei baltischen Staaten haben. Aber Wald ist nicht nur für den Tourismus ein wichtiger Faktor. Auch die Holzwirtschaft hat Ansprüche. Und das führt zwangsläufig zu einem Zielkonflikt.
Urwald, Naturwald, Schlagwald
Wenn wir in Westeuropa von Wald sprechen, dann meinen wir vielfach Forst. Holz wächst dort als Ressource, in parzellierten Gebieten, genau nach Plan und unter Management einer Behörde oder eines privaten Besitzers. Natürliche Wälder sind sehr selten geworden. Noch finden sich einige, in der EU vorwiegend in den östlichen und südöstlichen Ländern. Auch in Estland gibt es noch Urwälder. Und nicht alle stehen unter Schutz. Der Wirtschaftsfaktor Holz gewinnt stetig an Bedeutung und es steht zu befürchten, dass Kettensägen die Landschaft Stück für Stück in eine ressourcenoptimierte Forstwirtschaft umwandeln.
Konzert unter Bäumen
Am Morgen meines 43. Geburtstags weckt mich die Morgenstimmung. Wir hatten nachts auf Heidelbeersträuchern mitten im Sumpf übernachtet, um einem besonderen Konzert beizuwohnen. Ein Streicherensemble spielt zur Sommersonnwende die Peer-Gynt-Suite zum Sonnenaufgang. Ein magischer Moment. Just als die Musik leise beginnt, erwachen die Vögel und stimmen in das Konzert ein. Einige Dutzend Zuschauer stehen auf der kleinen Erhebung unter Bäumen und lauschen, wir sind unsichtbar „hinter der Bühne“, umgeben vom Geruch, dem Morgentau und dem Rascheln der Natur.
Heilige Stätten
Der Wald in Estland hat etwas Besonderes. Auf den langen Auto- und Busfahrten quer durch den Baltenstaat waren meine Anlaufpunkte häufig die „Heiligen Stätten“. Eine Karte vom Tourismus-Ministerium versammelt sie und die Broschüre erzählt die Legenden aus vorchristlicher Zeit. Was vielfach als „Neo-Heidentum“ gewertet wird, lässt sich ebenso interpretieren als Biodivinität – die Anbetung der Natur als Mutter der Schöpfung. Man mag an Kraftorte glauben oder auch nicht, in Estland spürt man die Magie.
Der Appetit auf Holz wächst ständig
Andererseits ist Holz eine wertvolle Ressource, nicht nur in seiner ursprünglichen Form als Stamm, aus dem man Bretter sägt. Gespant wird es zu Möbeln, in Pelletform zu Heizmaterial und als Zellstoff stillt es den stetig ansteigenden Bedarf an Verpackungsmaterial, Druck- und Hygienepapier. In Estland haben sich die Einschlagquoten im vergangenen Jahrzehnt verdreifacht. Aufgrund dieser Entwicklung erwartet die Europäische Kommission, dass Estlands Wälder bis 2030 zu einer Netto-Kohlenstoffquelle werden, anstatt wie heute eine Senke zu sein.
Wer wird gewinnen in diesem Kampf: die ewige Magie der Natur oder kurzfristige Profitversprechen der Holzindustrie?