Wir werden vermisst

Eine Frau in Sari und ein Mann im weißen Hemd stehen vor ihrem Haus

Fernwehalarm. Nach der langen Urlaubsabstinenz flammt die Sehnsucht nach der Ferne allerorts heftig auf. Und auch wir werden schmerzlich vermisst, speziell von den kleinen, nachhaltigen Tourismusanbietern rund um den Globus.

Sehnsüchtige Reisegedanken von Susanna Hagen

Auch wenn sich Europa langsam für den Tourismus öffnet, könnte es noch eine ganze Weile dauern, bis wir wieder ungehindert das sprichwörtliche Weite suchen dürfen. „Naja, Fernreisen tun der Umwelt ohnehin nicht gut“, flötet meine innere Stimme. Im ersten Lockdown-Tief habe ich mich gerne mit der angeblichen Rückkehr der Seepferdchen in die gondelbefreiten Kanäle von Venedig trösten lassen, oder mit dem kolportierten Babyboom bei den Menschenaffen in den afrikanischen Regenwäldern.

Im Schatten der Krisen

So schön meine Naturerholungsfantasien auch sein mögen – die Realität sieht leider überhaupt nicht rosig aus. Drängende Aufgaben wie Armutsbekämpfung, Wahrung der Menschenrechte, Empowerment oder umfassender Meeres- und Naturschutz werden im Schatten der Pandemie und Klimakrise noch dringlicher. „Es ist nicht 5 sondern 3 vor 12!“ warnt die Wissenschaft, doch wer hört zu? In den letzten Jahren durfte ich zahlreiche kleine Projekte in den Ländern des Südens besuchen, die mit sozial verträglichen und umweltschonenden Angeboten positiv zur Entwicklung beitragen. Jetzt drohen sie durch ihre Abhängigkeit vom internationalen Tourismus in arge finanzielle Bedrängnis zu geraten. Um die Menschen, die ausnahmslos mit großem Engagement hinter diesen Projekten stehen, mache ich mir Sorgen. Zum Beispiel um meine Freundin Ida Cham in Gambia, deren Kochkurse schon lange ausfallen. Normalerweise kann sie sich vor Buchungen kaum retten, denn sie zeigt auf sehr entspannte Art, wie Tourismus auf Augenhöhe funktioniert. Wer einen Kochkurs bei Ida und ihren Mitarbeiterinnen bucht, wird erst einmal mit lokaler Kleidung ausgestattet. Damit fällt es viel leichter, am Markt ins Gespräch zu kommen. Direkt am Strand haben die Verkäuferinnen ihr Gemüse und Obst ausgebreitet. Fangfrische Fische werden direkt vor den bunten Pirogen verkauft. Bei der Preisverhandlung wird palavert und viel gelacht. Zurück in Idas Open-Air-Küche waschen, schälen, schneiden und rühren die Gäste, was das Zeug hält und lernen dabei „en passant“ viel von der Kultur und Tradition des westafrikanischen Landes. Aber normal ist eben derzeit gar nichts.

Fehlende Einnahmen

Wie kommt wohl die großartige Chobe Game Lodge in Botswana jetzt zurecht, die mit ihrem zu 100 Prozent aus Frauen bestehenden Team an Driver-Guides und elektrischen Safari-Autos wahre Pionierarbeit geleistet hat? Wie wird es mit dem Safariunternehmen von Lydia Kalimwine in Uganda weitergehen, die mit den Spenden ihrer Gäste ein Waisenhaus für 240 Kinder betreibt? Und was macht Gopi Parayil in Kerala, der bei seinen Reiseprogrammen die Menschen der niedrigsten Kaste einbindet?
Nicht nur im sozialen Bereich hat die Pandemie viele Schwachstellen bloßgelegt. Speziell in Entwicklungsländern fehlen nun auch die Einnahmen von internationalen Gästen, mit denen bislang wichtige Natur- und Artenschutzprogramme mitfinanziert wurden. Verlassene Nationalparks müssen ihre Ranger auf unbezahlten Urlaub schicken, weil sie sich die Gehälter nicht mehr leisten können. Wilderei nimmt zu. Das betrifft bedeutende Nashornprojekte wie jene von Frank Wirth im Hochland von Kenia besonders stark. Oder die klugen Initiativen von Edwin Sabuhoro, dem es in Ruanda mit viel Überzeugungskraft gelungen ist, ehemalige Wilderer zu Spurenlesern und Guides für die Berggorillatracks auszubilden. Lodges stehen leer, die Angestellten kehren in ihre Dörfer zurück. Wichtige Projekte drohen im wahrsten Sinne des Worten auch beim Meeresschutz zu versanden. Einheimische, die normalerweise von Strand- und Tauchtouristen leben, wenden sich notgedrungen nun wieder vermehrt dem Fischfang zu. Mit sinkender Präsenz von Touristen und Behörden steigen auch die illegalen Aktivitäten der industriellen Fischerei.

Umdenken: JETZT!

Anders als im Westen, lassen sich in Entwicklungsländern die Verluste aus dem internationalen Tourismus nicht mit Besuchern aus dem Inland wettmachen. Das Aufzeigen der Schwachstellen, die durch die Pandemie sichtbar geworden sind, bietet jedoch DIE Chance für ein weltweites Umdenken. Nicht billige Ausbeutung von Mensch und Natur, sondern Projekte mit positiven lokalen Auswirkungen auf Soziales und Umwelt machen für mich die Zukunft des Tourismus aus.
Ob und wie die durch den Reisestillstand ersparten Urlaubsgelder und -tage für eine Fernreise genützt werden, bleibt jeder und jedem selbst überlassen. Wenn ich aber Ihnen, mir und unseren Enkelkindern etwas wünschen darf, dann ist das eine für alle Menschen lebenswerte Welt, in der Reisen wieder etwas Besonderes wird. Und eine, in der wir uns Gedanken machen, was wir mit unserem Geld bewirken können.