30 Millionen Übernachtungen visiert die deutsche Hauptstadt für 2020 an. Berlin will ganz oben mitspielen in der Liga der Städtedestinationen. „Der Tourismus ist ein Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg dieser Stadt.“, sagt die Wirtschaftssenatorin. Würde sie was Anderes sagen, hätte sie vermutlich den Beruf verfehlt. Zu sehen, zu erleben, zu verstehen gibt es genug in der geschichtsträchtigen Metropole. Wen wundert’s, dass Gäste aus der ganzen Welt dem Mythos Berlin auf den Grund gehen wollen.
„Die Massen sind jetzt da, es hat sie niemand drum gebeten.“, texten derweil die Musiker vom Berliner-Reggae-Spitzenreiter Seeed. In den Hip-Bezirken steigen die Mieten, der Senat denkt über ein Verbot der Ferienwohnungsnutzung von Appartments nach, Sticker verkünden gleich am Hauptbahnhof „Berlin does not love you.“ Des einen Freud, des anderen Leid.
An der Fritten-Bude im Berliner Bezirk Reinickendorf herrscht Business as usual. Keine langen Schlangen wie beim Gemüsedöner in Kreuzberg. Berliner Schnauze, Curry ohne Darm, Nachbarschaftsplausch. Das Berlin der Touristen ist woanders. „Die Nischen gehören uns!“, könnten die Einheimischen fordern. „Museumsinsel für euch, im Kiez wollen wir unsere Ruhe haben.“ In Nationalparks spricht man von Zoning, wenn es um die Lenkung von Besucherströmen geht. Dort wird getrennt, was nicht zusammen gehört: Schutzbedürftige Arten und Eindringlinge von außen. Aber kann es so etwas wie ungestörte Rückzugsräume in Städten überhaupt geben? Das Leben vieler auf engstem Raum ist vorteilhaft: Das dichte Kulturangebot, die Nahversorgung mit Geschäften, Bildungs- und Gesundheitsdiensten. Nachteil ist, dass sich die Gartenzäune nicht so weiltäufig um die Privatsphäre spannen lassen. Die anderen Menschen sind der Preis für die Annehmlichkeiten urbaner Lebensqualität. Eigentlich schön, an einem Ort wohnen zu dürfen, dessen Attraktivität viele „erleben“ wollen.
Es ist nur menschlich, dass wir auch wissen wollen, was hinter dem Vorhang los ist. „Die Neugier ist die mächtigste Antriebskraft im Universum.“ Walter Moers hat das gut beobachtet. Das Herdentier Mensch steht dann doch gerne mal etwas Abseits der Truppe – Stichwort: Individualerkundung. Nachmittag zur freien Verfügung. Dann geht sie los die Schatzsuche nach den versteckten Juwelen. Man entdeckt charmante kleine Cafés, reizende Boutiquen und geheimnisvolle Seitengassen. „Herrlich un-touristisch“, sagen die Touristen. „Totaler Quatsch, als gäb’s in der Innenstadt unentdeckte Ecken.“, denken sich die Eingeborenen. Recht haben sie wieder beide. Das Besondere ist Geschmackssache.
Probleme treten an den Kreuzungspunkten auf. Ich beobachte in vielen Städten, dass Bewohner einen weiten Bogen um Sehenswürdigkeiten mit allzu großen Touristenansammlungen machen. Die Touristen hingegen bewegen sich nur sehr selten über die Grenzen des Gratis-Stadtplans von der Tourist-Info hinaus. Vielleicht an der Hand eines Greeters, der geführte Stadterkundung mit viel Lokalkolorit verspricht und auch die Vorstädte nicht scheut. Und dann gehen die Gäste ganz begeistert heim, verteilen fleißig „Geheimtipps“ an ihre Freunde und Bekannte und irgendwann ist der Kiez dann „Insiderwissen“ – man erkennt es am gelben Highlight – im Reiseführer. Wer dabei Böses denkt, der muss sich fragen lassen, ob er nicht auch schon mal mit dem Mietwagen auf einer spanischen Insel die Seitenstrasse genommen hat, um in einem verträumten Bergdorf den romantischen kleinen Landgasthof zu entdecken. Fernab der Ströme. Berlin oder Ballermann: Man ist eben lieber Reisender als Tourist, versteh einer den Unterschied.
Ich mag eine Lanze brechen für Reisen, die den ursprünglichen Charakter eines Ortes widerspiegeln, die regionales Essen auf den Tisch bringen, einheimische Reiseführer beschäftigen und lokale Verkehrsmittel nutzen – auch oder gerade wenn die auch aus den Touristenghettos rausführen. Was im Gambia gut ist, nämlich freundliche Begegnungen und fairer Austausch zwischen Einheimischen und Besuchern, kann in Graz ja nicht schlecht sein. Schreiende Horden, die volltrunken die Welt tyrannisieren, mag man weder in Dortmund noch in Dominica. Die Sticker mit der durchgestrichenen Herz gehören folglich den krakelenden Individuen auf die Brust geklebt, nicht als Generalanklage auf die Laternenpfosten. Zu einer Debatte Touristen ja oder nein, wird es kaum kommen. Die Frage lautet: Wer, Wie, Was! Und das wissen wir schon seit der Sesamstrasse.
Nana Rebhahn will mit ihrem Filmprojekt „Welcome Goodbye“ rausfinden, wie nachhaltiger Tourismus in einer Stadt wie Berlin funktionieren kann.
[vimeo http://www.vimeo.com/38881704 w=500&h=275]
Update 2016: Der Film ist mittlerweile schon längst fertig – mehr Infos unter http://www.welcomegoodbye.de