Kerala: Indien anders

Keralesische Mädchen in bunten Saris

Die Einheimischen nennen Kerala voll Stolz God’s Own Country. Und in der Tat: auf den Flüssen und Kanälen, an den Sandstränden und in der grünen Bergwelt der Western Ghats wähnt man sich im Paradies.

Sozialismus unter Palmen

Eine Flusslandschaft mit Palmen und rosa Sonnenuntergangswolken

Mit einem überdurchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, einer hohen Lebenserwartung, niedrigen Geburtenraten, einem gut ausgebauten Gesundheitssystem und einer Alphabetisierungsrate von fast 95 Prozent bietet der Bundesstaat im Südwesten Indiens einen relativ guten Lebensstandard. Diese Erfolge wurzeln in einer sanften Form von Sozialismus, der seit den ersten demokratischen Wahlen 1957 die Geschicke des Landes mitbestimmt. Dazu kommt die Weltoffenheit der Keralesen, die sich nicht zuletzt in der herzlichen Gastfreundschaft ausdrückt, der Besucher aus aller Welt ebenso schnell erliegen wie der keralesischen Kochkunst. Einen besseren Fleck, um auf sanfte Art in die manchmal verwirrende Zauberwelt Indiens einzutreten, gibt es wohl kaum.

Tropisches Grün und quirlige Städte

Hellgrüne Landschaft mit Bäumen, Kaffeepllantagen und Bergen im HintergrundDie grüne Pracht Keralas wird bereits bei einem Blick aus dem Flugzeugfenster deutlich: gespeist vom Wasser der Flüsse, die im dichten Dschungel der Bergwälder im Osten entspringen, trieft die Ebene, die sich bis an die Sandstrände der Malabarküste erstreckt, vor Fruchtbarkeit. Überall dort, wo sich nicht gerade üppige Felder ausbreiten, ist sie dicht mit „Kera“ bewachsen. In der Landessprache Malayalam heißt so die Kokospalme, der Kerala seinen Namen verdankt. Dazwischen windet sich ein Netzwerk von Wasserwegen – die Backwaters, an deren Ufern sich das Leben in einem beschaulichen Rhythmus abspielt. Selbst Ballungszentren wie die Hauptstadt Thiruvananthapuram (Trivandrum) machen den Eindruck, als hätte Indien plötzlich einen Gang zurückgeschaltet. Kochi (Cochin), die zweitgrößte Stadt, verströmt eine Atmosphäre von mildem Wohlstand.

Eine ältere grauhaarige Frau hält ein Kleinkind auf dem SchoßTrotz der dichten Besiedelung ist das Straßenbild geordnet. Von Plastikabfall gesäumte Straßen, die ich vom Goldenen Dreieck zwischen Delhi, Agra und Jaipur kenne, sehe ich hier nicht. Statt den selbstgebastelten Hütten, die sonst die Städte einkreisen, stehen hier Häuser aus Ziegelsteinen. Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel bezeugen eine seit jeher gelebte Toleranz. Über, vor und zwischen den Gebäuden herrscht ungezähmte tropische Vegetation. Die Menschen sind gut gekleidet und machen einen geschäftigen Eindruck. Bettler sind selten. Im Licht der Nachmittagssonne schlängeln sich Kinder in adretten blauen Schuluniformen unter jahrhundertealten Urwaldriesen durch, deren Luftwurzeln und Schlingpflanzen bis auf das Pflaster reichen.

Lebendige Kultur am Fluss

Blauer Fluss mit goldenem Sandstrand und Menschen, die im Wasser stehenKerala wird von 44 Flüssen durchzogen. Einer der längsten von ihnen ist der Bharathapuzha, der im Volksmund Nila genannt wird. Er hat viele indische Poeten beflügelt und gilt als die Wiege der keralesischen Kultur. Genau die will der Reiseunternehmer und Sozialaktivist Gopinath Parayil mir zeigen. Der End-Dreißiger, den seine Freunde Gopi nennen, hat ein Netz aus Projekten geschaffen, das die Menschen und Dörfer am Nila mit den Besuchern dieser Region verflicht.

Geballter Kunstgenuss

Drei Mädchen in rosa-grünen Saris zeigen synchrone TanzschritteUnser erster Programmpunkt – die Kalamandalam Akademie für Theater, Tanz und Schauspiel in Cheruthuruthy – taucht mich in eine Wunderwelt von Farben und Klängen. Vor mir steht eine Reihe Buben, der jüngste sieht aus wie ein Erstklässler. Sie tragen weiße Dhotis – die traditionellen indischen Beinkleider – und üben ehrgeizig einige der 600(!) Handbewegungen und neun Gesichtsausdrücke, die zum Handwerkszeug der 20 uralten Kunstformen Keralas gehören. Seit 1930 werden sie hier gelehrt und damit vor dem Vergessen bewahrt. Im Pavillon nebenan erzählen dutzende Mädchen in orange-grünen Saris einzig mit Bewegungen, Gesten und Augenrollen ganze Geschichten. Eine graziöse Handdrehung hier, eine gehobene Augenbraue da, ein exakt gesetzter Tanzschritt – unter den strengen Blicken und Taktschlägen der Lehrerin synchronisieren sich ihre Bewegungen bis zur Perfektion. Die zu erreichen ist das Ziel hunderter Eleven, deren Ausbildung mindestens „acht Monsune“ lang dauert. Was die Hochschule auszeichnet: Jeder talentierte Schüler wird ungeachtet seiner Abstammung oder sozialen Verhältnisse aufgenommen. Bis zu neun Stunden täglich trainieren Buben und Mädchen – streng getrennt – uralte Künste wie Kathakali oder Kuttiyatam. Letzteres ist als älteste, über 1800 Jahre kontinuierlich gepflegte Schauspieltradition Indiens auf der Liste des UNESCO Weltkulturerbes vermerkt. Mit gezückter Kamera wandle ich stundenlang zwischen den 15 Pavillons hin und her, und kann mich doch nicht satt sehen.

Redlich verdienter Reis

Ein Mann mit entblößtem Oberkörper hockt vor einer Töpferscheibe, auf der eine Vase entstehtDie Einbindung unterprivilegierter Bevölkerungsschichten in den Tourismus ist der Kern von Gopis Konzept. Deshalb statten wir Handwerkern wie Gopalam, dem Töpfer, einen Besuch ab. Mit glitschigen Fingern versuche ich vergeblich, den Tonklumpen in der Mitte der Scheibe zu halten und diese gleichzeitig mit dem Fuß anzutreiben. Als der Batzen wegzufliegen droht, nimmt mir Gopalam die Sache aus der Hand um binnen Minuten eine perfekte Schale zu präsentieren. Voll Stolz lacht er bis seine Rippen vibrieren. Seine Fröhlichkeit mag darin wurzeln, dass er und seine Familie dank Gopis Gästen jetzt fast immer Reis in der Schale haben. Seine Kannen und Töpfe sind beliebte Souvenirs. Meine Teekanne kostete weniger, als ich sonst in Wien für eine Tasse Tee bezahle und ziert täglich meinen Frühstückstisch.

Eine Gruppe Männer mit weißer Beinbekleidung und nacktem Oberkörper spielen auf diversen Blas- und PerkussionsinstrumentenEin halber Tag gehört den Tempelmusikern. Für uns marschieren sie mitten im Dschungel vor der Kulisse eines hinduistischen Dorftempels auf. Sie zeigen ihre Fertigkeit auf einer Vielzahl von traditionellen Instrumenten, von denen ich die meisten nicht kenne. „Durch den Tourismus haben die Künstler die Möglichkeit, öfter zu proben und aufzutreten“, meint Gopi, „eventuell können wir auf diese Weise sogar durch die Kasten-Schranken brechen, die es leider auch in Kerala noch gibt.“

Eine Frau in gelbem Sari und ein Mann mit weißem Hemd stehen vor ihrem HausZur Stärkung besuchen wir die Eltern von Arun, einem der Übersetzer, die für Gopi arbeiten. Die Mutter hat im Wohnzimmer glänzende Bananenblätter am Boden aufgelegt und serviert darauf jetzt liebevoll Thali – verschiedene vegetarische Gerichte. Theoretisch soll ich den Reis mit den Fingern der rechten Hand am Blatt so formen, dass er in die Sauce getaucht und elegant zum Mund geführt werden kann. Blanke Theorie, wie die Flecken auf meiner Bluse beweisen. Geschmeckt hat es jedenfalls ausgezeichnet. In den verzauberten Minuten vor Sonnenuntergang rudert uns ein lederhäutiger Mann in seinem Thoni durch einen Seitenarm des Nila. Früher sah er den illegalen Sandschmuggel als seine einzige Einnahmequelle. Heute ist ihm die Fahrt mit uns im wahrsten Sinne des Wortes eine Ehre. „Schön, endlich mein Geld ehrlich zu verdienen“, strahlt er.

Muße im Baumhaus

Hoch über dem Boden thront im satten Grün ein kleines Baumhaus.Zum Abschied von Kerala geht es in die abgeschiedene Region Wayanad in den Bergen der Western Ghats. Die Kurve Nummer 9 ist legendär. Der Prototyp einer Haarnadelkurve und Höhepunkt der Verbindungsstraße zwischen der alten Herrscherstadt Calicut (heute Khozikode) in Kerala und der Seidenhauptstadt Mysore im Bundesstaat Karnataka. Am Kamm angelangt vermag ich nicht zu sagen, ob es die Fahrt oder die grandiosen Ausblicke sind, die mir den Atem nehmen. Doch durchatmen ist leicht, denn nach der feuchten Hitze in der Ebene fühlen sich die Wälder von Wayanad an wie ein Konzentrat aus Sommerfrische und Frühlingsregen. Gopi stellt mir Victor vor. Der Hüne, dessen Lachen manchmal breiter scheint als seine Hutkrempe, nennt eine Kaffee- und Gewürzplantage sein eigen. „Zimmer oder Baumhaus?“ fragt er mich. Einem persönlichen Faible für Gastfreundschaft folgend hat er irgendwann ein kleines Gästehaus an seinen Managerbungalow angebaut und es – treffenderweise – Tranquil genannt. Die zwei auf hohen Stelzen thronenden Cottages hoch über den Wäldern sind sein ganzer Stolz. Bei einem Streifzug durch die Plantage reden wir mit den Gärtnerinnen und atmen den Duft von Kardamom, Muskat, Pfeffer und Vanille. Am familiär geführten Tisch fühle ich mich gleich zu Hause, nicht zuletzt wegen der bodenständigen Küche. „Wer nach Kerala kommt, wird seine Heimat schnell hinter sich lassen!“ sagt ein Sprichwort. Es stimmt.

Infos & Buchung: Allgemeine Informationen zu Kerala finden sich auf www.keralatourism.org/german – Begegnungen auf Augenhöhe mit den Menschen und tiefe Einblicke in die Kultur sind die Stärken des international vielfach ausgezeichneten Reiseveranstalters The Blue Yonder (www.theblueyonder.com) von Gopinath Parayil. Aus Sorge um den durch illegalen Sandabbau bedrohten Nila Fluss und die Kultur an seinen Ufern hat er im Jahr 2004 die Nila Stiftung ins Leben gerufen . Wer seine Studienreise mit einem Bade- oder Ayurveda-Urlaub krönen möchte, ist mit dem Marari Beach Resort der CGH Hotels (www.cgh-earth.com) gut beraten. Weitere Hoteltipps: www.riverretreat.in, www.tranquilresort.com

An- und Einreise: Angenehm sind die Verbindungen mit Qatar Airways oder Emirates ab Wien nach Kochi via Dubai oder Qatar. Infos: www.qatarairways.com, www.emirates.com. Zur Einreise benötigt man ein Touristenvisum und einen  mindestens noch sechs Monate gültigen Reisepass. Visa-Informationen finden sich unter www.indianembassy.at

Gewusst wann: Wenn man nicht gerade ein Fan von Monsun-Güssen und extrem hoher Luftfeuchtigkeit ist, empfehlen sich für eine Reise die Monate Oktober bis März. In höheren Lagen wie z.B. in den Western Ghats ist das Klima bis in den Juni hinein angenehm.

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