Ein möglichst selbstbestimmtes Leben mit guter Ausbildung, beruflichen Chancen, harmonischem Familienleben und ansprechender Freizeitgestaltung wünschen sich die meisten von uns. Reisen steht weit oben auf dieser Wunschliste, auch bei Menschen mit Beeinträchtigungen. Doch da gilt es immer noch viele Hindernisse zu überwinden.
Einfach ist anders
So einfach ins Blaue fährt niemand der mit einer Behinderung lebt, denn die wunderbare Reisewelt präsentiert sich oft sehr hart, wenn man nicht der Norm entspricht. Trotz wortreichen gesetzlichen Bestimmungen, die eine Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gewährleisten sollen, gehören unzugängliche Unterkünfte und Lokale, nicht klar lesbare Internetseiten, ungeeignete Toiletten und mannshohe Theken sowie Hindernisse am Bürgersteig zu ihrem Reisealltag. Fehlende Aufzüge, Orientierungshilfen oder Signale, keine behindertengerechten Beschriftungen, kaputte Rampen oder unerreichbare Geldautomaten und Postkästen trüben schnell die Urlaubslaune. Von unwilligen Kellnerinnen und Hotelbesitzern, die sich weigern, ihre Möblierung auch nur um ein paar Zentimeter zu verrücken ganz zu schweigen. Übel kann es schon bei der Anreise zugehen, wenn beispielsweise eine uralte Zuggarnitur statt des erwarteten rollstuhlgerechten Wagens in die Station einfährt, das Schiff zwar barrierefrei ist – der Anlegesteg aber nicht, am Kurzstreckenflug kein Bordrollstuhl für einen Toilettenbesuch zur Verfügung steht oder die Tür des Bord-WCs überhaupt für Rollis zu schmal ist. Noch bessere Vorkehrungen braucht es für Reisen im Elektro-Rollstuhl. Immerhin kann er samt Besitzer bis zu 150kg wiegen und so manche Einstiegsrampe im wahrsten Sinne ramponieren.
Planung ist die halbe Reise
Egal ob das persönliche Manko im physischen Bereich liegt, das Gehör, die Sehkraft oder die Lernfähigkeit betrifft, ein Assistenzhund oder ein Rollator benutzt wird – jeder noch so kurze Urlaub mag sorgfältig geplant sein, um unliebsame Überraschungen möglichst von vornherein auszuschließen. Hilfreich sind die Mobilitätszentren der Fluglinien und der Bahn sowie Online-Portale, auf denen die Abfahrtszeiten von Niederflurstraßenbahnen und -Bussen ebenso aufgelistet sind, wie Lifte bei U- oder S-Bahnstationen oder öffentliche Behindertentoiletten. Entweder vertraut man auf die Expertise eines etablierten Spezial-Reiseveranstalters, oder fischt im weltweiten Netz nach dem richtigen Angebot. Die Wahl des passenden Quartiers ist hierbei das A und O, denn das barrierefreie Hotelzimmer dient erfahrungsgemäß als wichtiges Rückzugsgebiet. In der Norm kostet das barrierefreie Zimmer so viel wie ein gutes Doppelzimmer, ist aber in vielen Destinationen nur in Vier- und Fünfsternhotels verfügbar. Falls kein rollstuhlgerechtes Zimmer zur Verfügung steht, wird auch gerne einmal eine Suite – natürlich zum üblichen Preis – angeboten. Bei einem Citytrip empfiehlt sich die Buchung einer Stadtführung mit einem speziell ausgebildeten Guide.
Tourismus für alle
Behindert ist, wer behindert wird. Aber werden wir das nicht alle? Hohe Bordsteine und Stufen, mangelnde Kennzeichnungen und zu kurze Ampelphasen ärgern nicht nur mobilitätseingeschränkte Menschen. Blickt man auf die demografische Entwicklung, die uns eine immer höhere Lebenserwartung bescheren wird, macht es noch mehr Sinn, sämtliche Hürden aus dem Weg zu räumen. Dazu zählen auch die Barrieren im Kopf vorurteilsbehafteter Menschen, die auf einen Rollstuhl oder eine gelbe Armbinde mit Bevormundung reagieren oder – noch schlimmer – einfach starren, statt zu helfen. Eines ist klar: barrierefreie, sichere und komfortabel gestaltete Tourismusangebote erhöhen die Attraktivität jedes Reiseziels und ziehen Familien mit Kindern oder ältere Reisende in gleichem Maße an wie Menschen mit Mobilitätseinschränkung.
Gehörlos kommunizieren
Pei-Chin lebt in Taiwan. Sie ist gehörlos und kommuniziert in Gebärdensprache. Ihre Reiselust hat das noch nie getrübt. Nachdem sie sich mit einer Ägyptenreise einen lang gehegten Traum erfüllt hat, geht die nächste Tour nach Wien. Als routinierte Reisende hat sie alles gut vorbereitet und findet den Weg zu ihrer Unterkunft problemlos. Das Sightseeing genießt sie voll und ganz. Als Lehrerin für Gehörlose kann sie sich erstklassig in Gebärdensprache verständigen. Kommunikative Hürden werden schriftlich und auf Englisch genommen. Dazu hält sie immer Block und Stift bereit. Alles geht glatt, bis sie sich aus dem Ferienapartment sperrt. Einen Ersatzschlüssel gibt es bei der Nachbarin. Diese hilft gerne, ruft danach aber ziemlich verwirrt die Vermieterin an: „Wissen Sie, ich verstehe nicht, warum ihr Gast auf Englisch schreibt, aber nur Chinesisch redet?“ Als sie erfährt, dass Pei-Chin gar nicht sprechen, sondern nur gutturale Laute von sich geben kann, ist es ihr sehr peinlich. Sie hatte wohl – wie die meisten Menschen – noch nie näheren Kontakt zu einer gehörlosen Person.
Blind in den Bergen
Naturverbunden und sportlich sind nicht unbedingt Attribute, die Menschen mit Behinderungen zugeordnet werden. Von Geburt an blind, strahlt der Osttiroler Andy Holzer eine Tatkraft und eine lebensbejahende Zuversicht aus, von der sich viele Zeitgenossen etwas abschauen könnten. Reisen war für ihn nie ein Problem. Sechs der Seven Summits, also der höchsten Gipfel jedes Kontinents, hat er bestiegen. „Ich habe von klein auf vergessen, dass ich blind bin“, erzählt er. Als Volksschüler entdeckte er die Langlaufloipen seiner heimatlichen Berge und deklarierte das Loipennetz kurzerhand als sein ideales Blindenleitsystem. Seiner Erfahrung nach hätten die Menschen der westlichen Welt verlernt, alle ihre Sinne zu nutzen. Indem sie sich zu 80% auf ihr Sehvermögen verließen, verzichteten sie auf den Großteil ihrer Sinneskraft. „Ich verwende meine vier anderen Sinne, um zu sehen“, bekräftigt der Bergsteiger, „ich habe noch nie so viele blinde Menschen erlebt, wie unter den Sehenden!“
Sightseeing im Sitzen
Ein Städtetrip nach Berlin. Alex ist am Beifahrersitz festgeschnallt. Sein Rollstuhl ist im Kofferraum verstaut. Brix, seine Mutter, lenkt den Wagen. Ich bin aus journalistischem Interesse mit von der Partie, und weil ich die beiden seit Jahren kenne und bewundere, wie positiv sie mit dem Leben umgehen. Schon nach 70 Kilometern beginnen wir an der Reiseverpflegung zu naschen. Tramezzini und Kaffee aus der Thermoskanne. „Ich esse nie etwas vor Zwei,“ lehnt Alex dankend ab. Der Grund wird mir erst klar, als wir die erste Pause einlegen. Kofferraum auf, Rolli raus, Alex abschnallen, Alex in den Rolli, Alex festschnallen, Alex auf die Toilette, Alex abschnallen, usw. Beim nächsten Mal bleibt er lieber gleich im Auto. Während der achtstündigen Fahrt trinkt Alex nur ein kleines Glas Cola und benützt einmal die Toilette. So ist während der nächsten drei Tage neben Sightseeing und Shoppen immer wieder auch das Thema Behindertentoilette im Spiel. Letztendlich suchen wir für das Abendessen stets ein Restaurant in der Nähe unseres rollstuhlgerechten Hotels aus, das spart mühsame WC-Recherchen. Von den Berlinern zeigt sich Alex durchwegs begeistert: “Die sind viel freundlicher als zu Hause“, meint er. An Hilfsbereitschaft mangelt es tatsächlich nicht, Kellner und Passanten greifen zu, ohne mit der Wimper zu zucken. „Helfer sind sehr wichtig“, bestätigt Brix, „wenn dann noch die Taxifahrer freundlich sind, kann fast nichts mehr schief gehen.“
Infos:
Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (ÖAR): www.oear.or.at
Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle e.V. (NatKo): www.natko.de
European Network for Accessible Tourism (ENAT): www.accessibletourism.org
Online-Plattform für Barrierefreiheit: www.wheelmap.org
Infoseite barrierefreier Tourismus: www.barrierefreier-tourismus.info (D), www.urlaubfueralle.at (Ö)
Arcotel Velvet Berlin: www.arcotelhotels.com