Ein Lokalaugenschein in der europäischen Kulturhauptstadt 2024
Es regnet in Strömen, als ich in Estlands zweitgrößter Stadt ankomme. Für’s Wetter kann keiner was. Also Auto abstellen und schnell irgendwo rein. Ich lande in einer schummerigen Kellerkaschemme mit viel zu viel Schnaps in den Cocktails und lieblosem Essen aus der Friteuse. Der Chef irgendein Herr Modell Balkanmafia, in der Küche eine dunkelhäutige Dame, die nicht den Eindruck vermittelt, als solle bzw. wolle sie hier gesehen werden, und einer Bardame, der offenbar verboten wurde, Bargeld zu kassieren. Auch das ist 2024 authentische Kultur.
Das fettige Menu begieße ich ein paar Häuser weiter mit Craft Beer in einem Keller, wo ein MacBook Nerd sich erst an den Zapfhahn quält, um dann episch zu erklären, was es mit dem Bier, der Szene, deren schleichendem Niedergang und den Lebenshaltungskosten in Estland auf sich hat, die mittlerweile in den meisten Bereichen Schweden, Finnland und sogar Norwegen günstig aussehen lassen. Willkommen im teuersten Land Europas, so der Bärtiger-Bartender mit Heavy-T-Shirt. Es stimmt: Besucht die Bars, ihr Urlaubsethnologen.
Der Genialstenclub, laut Internetrezension „die beste Unterhaltungseinrichtung des Landes“, wärmt sich derweil im vorderen Teil in bester Kneipenmanier und im Nebensaal mit Lindyhop für die Nacht auf. Um 22 Uhr stehen 16 Leute, irgendwas zwischen Teen und Twen am Tresen an, um Drinks zu holen. Im Zweiminutentakt geht die Tür auf und liefert Nachschub an Feierlustigen. Alle klitschnass. Ich höre Englisch, Spanisch, Deutsch und vereinzelt Estnisch. Seit 1632 ist Tartu Universitätsstadt, ausreichend Zeit für eine gediegene Studentenkultur. Der Dünger: Öffnungszeiten bis 3 Uhr früh, täglich außer Sonntag, 8 Sorten Bier vom Fass und eine charmante Auswahl an Shots und Cocktails. Um halb Elf beträgt der Lärmpegel stattliche 85 Dezibel. Im ruhigen vorderen Kneipenteil, wohlgemerkt. Der hervorragende Internetempfang erlaubt sogar auf dem stillen Örtchen die unmittelbare Übersetzung der Wandsprüche: „„Mein Herz ist in der Bushaltestelle, wo die Spatzen auf dem Berg fressen, wo der Regen derselben Spatzen in Tartu widerhallt, wo in der Wärme des Baumhauses die Frau den Mann zum gemeinsamen Lachen ans Fenster einlädt, wenn die Blätter fallen im Herbst, im Herbst, Blumenfreund“. Kultur, zweifelsfrei, wenn auch … ich glaub, ich war grad auf dem Damenklo – hat aber niemand gemerkt.
Die Idee, nach der Clubnacht im Auto zu schlafen, hat sich als mittelmäßig klug herausgestellt: an der Windschutzscheibe begrüßt mich ein säuberlich gegen den nächtlichen Regen einfolierte Abmahnung mit einem Betrag, der vermutlich auch für ein Gästezimmer am Stadtrand gereicht hätte. Und entweder den Führerschein gekostet und die nachtaktive Bevölkerung ernsthaft gefährdet oder den Strafzettel für den Premiumparkplatz und eine Taxifahrt on top.
Strahlender Sonnenschein schmilzt den Gram des Erwischtwordenseins weg wie nix und wenn eh schon bezahlt ist, kann ich mir auch gleich einen Spaziergang durch die erwachende Stadt gönnen. Bildästhetisch ein klarer Gewinn. „Jede Stadt sieht bei Sonnenschein schöner aus“, hatte gestern eine Freundin mich belehrt, als ich vom sintflutartigen Regen erzählte. Ich hatte erwidert, dass auch das Nassgraue mit den bunt regenbeschirmten Passanten die Stadt ziert. Allein, man bräuchte besseres Equipment und mehr künstlerisches Geschick, um diese fröhliche Tristesse bildlich zu bannen. Sonne macht es einfach, Tartu strahlt. Von Fassaden, goldgelben Bäumen, aus Pfützen im Kopfsteinpflaster, der Oberfläche des Flusses und aus den Gesichtern.
Vor dem Rathaus wärmt sich derweil eine junge Folkloretanzgruppe auf. Es gehe um irgendwas mit Veterinärmedizin und Studenten. So genau könne sie das jetzt auf die Schnelle nicht erklären, verlautet eine junge Dame, sie müsse sich fertig umziehen. Sagt sie und rennt mit wehendem Trachtenrock und Turnschuhen in der Hand von dannen. Anmut braucht kein Drehbuch und Ästhetik keine Erklärung. Schön. Punkt.
Das Frühstück beim besten – und einzigen – Konditor am Hauptplatz inspiriert Gedanken zur modernen Gesellschaft: am Bedienen ist eine junge Frau, vielleicht eine jobbende Studentin, die höflich aber unbegeistert Kaffee serviert und ohne eine Miene zu verziehen meinem morgendlichen Wunsch nach einem Stück Rummikukki nachkommt. Ich werde nie erfahren, ob sie innerlich geschmunzelt hat, Übersetzung bot sie nicht an, und nein, Früchte seien da nicht drin. Jedenfalls hatte es der Rumkuchen, als der die Köstlichkeit sich eigentlich wenig verwunderlich entpuppte, in sich.
Der Lärm der in die Jahre gekommenen Kuchentheke liegt nur 5 Dezibel unter dem Rekordwert gestern im Club, messe ich nach. Mir fällt auf: ich denke an Arbeitsmedizin. Das ist eine ganz klare illegale Problemübernahme, also höchste Zeit aufzubrechen.
In der alten Markthalle, nur ein paar Schritte weiter, ist es ohnehin gemütlicher. Die kleine Café-Ecke ist der perfekte Ort zum mittendrin und doch nur dabei Sein. Hier stimmt die Mischung: die Halle aus den 1920ern ist modernisiert, es ist hell, freundlich und vielleicht das Wichtigste: man muss gar nicht in die Gesichter schauen, man erkennt es an den Schuhen, dass die Mischung stimmt: jung, alt, abgetragen oder krachneu, hochpreisig oder Containerware, das hier ist noch weit weg von den Hipster-Foodcourt-Tempeln, in die sich die Markthallen beständig verwandeln. Retro ja, Vintage nein. Die Oma mit der Gemüsetüte sieht nicht aus wie eine Bühnendekoration, hier trägt man geblümte Kittelschürzen und 80er Skijacken noch, weil man das schon immer so gemacht hat.
Wie man heute ganz modern Geschäfte macht, lassen die verglasten Stahlbetonkolosse vermuten, die sich direkt auf den anderen Seiten der Kreuzung aufreihen und zum Shopping einladen. Sie könnten überall stehen. Anders, als die Hingucker des Ensembles rund um das Science Center Ahhaa. Staunen ist Programm und lockt jährlich weit über zweihunderttausend Besucher in die Mitmachausstellung.
Ich bevorzuge als nächste Staun-Station aber das Nationalmuseum, wenige Kilometer außerhalb der Altstadt. Nach dem Rummikukki-Frühstück und dem Spaziergang meldet sich vorsorglich mein Magen: Bevor du dich hier der Kultur widmest, schau dir mal den hervorragenden und erstaunlich günstigen Mittagstisch im sehenswerten Restaurant des Hauses an. Beim Blick über den Tellerrand und aus der Glasfassade wird klar, dass schon der Standort das Geschichtsbuch aufblättert: Es liegt auf dem 50 Hektar großen Gelände des ehemaligen Raadi-Herrenhauses der deutsch-baltischen Adelsfamilie Liphart, das während der sowjetischen Besatzung als Luftwaffenstützpunkt diente. Seit 2016 schließt nun das wie ein Trichter in den Park hineingrabende Ausstellungsgebäude den vorderen Teil der Landebahn ab. Der Verdauungsspaziergang führt mich erst durch die Dauerausstellung, die sich ganz ohne Volkstümelei der Frage widmet, was denn die estnische Identität ausmacht.
Ich sammele mir eine schöne Mischung aus Vorwissen und Fragezeichen und trete die unmittelbare Spurensuche in Natur und Gesellschaft an: die Kultur endet schließlich nicht vor der Museumstür und an der Hauptstadtgrenze. Auf mich warten für die nächsten Tage mehrere Nationalparks und diverse kleine familiengeführte Unterkünfte.