Es sind nur etwas mehr als 1000 Kilometer Luftlinie von Berlin an die EU-Außengrenze, wo es mich hinzieht. Nicht die Grenze interessiert mich, sondern das Holzhaus, das sich ein Freund im Osten Lettlands gekauft hat. Doch seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die nahegelegene Grenze zu Weißrussland nicht nur eine Demarkationslinie, sondern ein Zaun, scharf bewacht von Patrouillen, die auch das Hinterland durchstreifen. Da es sehr lange dauert, um mit einem Fernbus oder gar der Eisenbahn in die lettische Provinz zu kommen, bleibt nur das Flugzeug. Die litauische Hauptstadt liegt näher als gedacht an Lettland, und so beginnt meine Reise durch das Baltikum in Vilnius. Im äußersten Osten Litauens liegt diese gemütliche, lebensfrohe, mediterran anmutende Stadt mit ihren zahllosen Barockkirchen, die oft überraschend im pastellfarbenen Gassengewirr auftauchen. Am Schloss ist eine Bühne aufgebaut, die an ein 35 Jahre zurückliegendes Ereignis erinnert, das mich erstmals mit dem Unabhängigkeitskampf der drei baltischen Staaten konfrontiert: Die friedliche Menschenkette, die zwei Millionen estnische, lettische und litauische Sowjetbürger am 23.8.1989 auf über 600 km bildeten. Sie erinnerten damit an den Hitler-Stalin-Pakt, der 50 Jahre zuvor das Schicksal der bis dahin unabhängigen baltischen Kleinstaaten besiegelte. Erst als die Sowjetunion Anfang der 1990er zusammenbrach, erlangten alle drei Länder ihre staatliche Eigenständigkeit zurück. Die Geschichte mit der Menschenkette ist in allen baltischen Ländern gerade wieder sehr präsent, hat sie doch gezeigt, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich einmal über Grenzen hinweg einig sind.
Doch sollte man sich hüten, die baltischen Staaten über einen Kamm zu scheren. Zu unterschiedlich sind zum Beispiel die katholischen, lange mit Polen in einem Staat verbundenen Litauer und die Letten, die eher auf hanseatische und lutherische Traditionen zurückschauen. Nur wenige Grenzübergänge erlauben es, aus Litauen zum nördlichen Nachbarn zu reisen. Eine Bahnverbindung, die Rail Baltica, ist erst seit kurzem im Bau.
Warum sich die erste Stadt hinter der Grenze, Daugavpils, so anders anfühlt, hat aber noch einen Grund: Hier wird nämlich vornehmlich russisch gesprochen. Traditionell gab es viele Weißrussen oder Russen in der Gegend, und vor allem nach der sowjetischen Annexion 1941 wurden viele Sowjetbürger aus anderen Republiken in Lettland angesiedelt. Nur wenige Kilometer von Litauen entfernt fühle ich mich daher erheblich weiter nach Osten katapultiert. Orthodoxe Kirchen, im stalinistischen Klassizismus errichtete Gebäude und der morbide Charme einer vernachlässigten Industriestadt verstärken diesen Eindruck. Die unzerstört gebliebene 150 Hektar große Zitadelle am beeindruckenden Fluss Düna und ein insgesamt harmonisches Bild der Innenstadt lohnen dennoch einen Besuch in der zweitgrößten Stadt des Landes.
Doch nun beginnt die nächste Etappe durch den menschenleeren Osten Lettlands. Hier wechseln sich Waldgebiete und offene Wiesenlandschaften ab. Links und rechts der gut ausgebauten Straße stehen Holzhäuser, halbverfallene Scheunen und ab und zu eines der typischen Dorfgeschäfte, „Veikals“, wo es von früh bis spät von Brot über Alkohol und Drogeriewaren alles zu kaufen gibt, was die Menschen hier brauchen. Die Landschaft ist abwechslungsreich: Von der mäandernden, mächtigen Düna über bewaldete Hügel und Weide- und Ackerflächen ist alles dabei. Manchmal endet die Teerstraße und geht in eine breite und gut befahrbare Sandstraße über. Orthodoxe Holzkirchen und ärmliche Gehöfte können ebenso unvermittelt am Wegesrand auftauchen wie gut gepflegte und neu gebaute Häuser. Einsame Seen sowieso. Und völlig unvermittelt kann etwas wie das „Glücksmuseum“ in Indra auftauchen, in einem Grenzort, wo man kreative Kultur wohl am, wenigsten erwarten würde. Obwohl nur wenige Menschen lettisch sprechen, und hier in der Gegend auch noch die eigene Regionalsprache „lettgallisch“, sind alle Wegweiser und Ladenschilder ausschließlich auf lettisch beschriftet. Ein Sprachgesetz, das die kleine Nation in Abgrenzung zu Russland schützen soll, sorgt dafür. Doch 37 Prozent der Einwohner des Landes sprechen zu Hause noch immer russisch. Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, wie ein friedliches Zusammenleben auf dieser Basis gelingen soll.
Sprachgrenzen kann man aber nicht sehen, ganz im Gegensatz zur EU-Außengrenze. Sobald man in Grenznähe kommt, weisen große Schilder darauf hin, dass hier Sonderregeln gelten. Und in der Tat ist man oft Polizeikontrollen ausgesetzt. Manchmal schauen die jungen Männer, die den olivgrünen Jeeps entsteigen, grimmig und skeptisch drein. Hat man aber ein EU-Dokument zur Hand, kommt man schnell wieder weiter. Einmal gab es eine Belehrung, dass es verboten ist, Anhalter mitzunehmen. Die Angst davor, dass die Grenze doch für Geflüchtete durchlässig sein könnte, ist hier allgegenwärtig. Um Bäume werden Flatterbänder gewickelt, die in mehreren Sprachen auf das Borderland hinweisen. Unklar bleibt im Gespräch mit Einheimischen, ob man eine Erlaubnis braucht, um die Grenzgegend zu befahren. Egal, was aus Russland oder Weißrussland kommt, es macht die Menschen hier sehr misstrauisch.
Ein Blick hinüber nach Weißrussland lässt zwar erahnen, dass es auf der anderen Seite so anders nicht aussieht, doch ich spüre: Dieser Riss durch Osteuropa wird tiefer werden als noch vor wenigen Jahren gedacht. Und der Riss zieht sich auch durch Lettland, wo mehr russisch gesprochen wird als irgendwo sonst in der EU. Dieses Land wäre prädestiniert dafür, eines Tages ein friedliches Miteinander mit Russen vorzuleben, doch das Trauma der Letten, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde, sie in den russischen Staat hineinzuzwingen, ist noch immer präsent. Und Moskau ist, wie ein Wegweiser zeigt, auch nur 644 Kilometer weit weg.
Ich verlasse das Borderland mit gemischten Gefühlen. Der dieselgetriebene Direktzug auf russischer Breitspur von Daugavpils nach Riga ist wie eine Reise aus Osteuropa in den Norden. Denn die lettische Hauptstadt fühlt sich an wie eine Mischung verschiedener europäischer Einflüsse. Im Kern ist Riga eine alte Hansestadt, wo Deutschsprachige lange das Sagen hatten, später eine dynamische Hafenstadt, wo sich Jugendstil-Architekten ausleben konnten wie nirgendwo sonst, bis es eine sowjetische Republikhauptstadt mit endlosen Hochhaussiedlungen und Industrieanlagen wurde. Hier, wo die Hälfte der lettischen Bevölkerung lebt, können die Einwohner stolz auf ihre einzigartige Lebensweise zwischen so vielen Kulturen sein. Das drückt sich auch kulinarisch aus: Ob Kvass aus dem Fass am Straßenrand, Pelmeni, kalte Rote-Bete-Suppe oder Ostseefisch – Europas größte Markthalle in Riga bringt die Einflüsse der Ostseeregion zusammen. Hier scheint das Nebeneinander der Volksgruppen zu einer Art Miteinander zu verschmelzen. Außerhalb der Halle bin ich mir da nicht ganz so sicher. Das Thema Borderland scheint es auch hier zu geben, nur ist man hier im Schatten des Rigaer Backsteindoms ein bisschen selbstbewusster als im armen lettgallischen Osten, wo der Grenzzaun den gemeinsamen Sprachraum, Familien und Handelswege zerschneidet. Man wird unwillkürlich an die deutsche Teilung erinnert. Diese Trennung wird nicht für immer sein, aber sie wird noch lange wirken, auch auf mich.