Das ging auf alle Knochen. 900 Kilometer Fahrt, meist auf Schotterpiste, beim Trip durch den äußersten Nordosten Indiens. Doch nun auf der großen Straße läuft es geschmeidiger. Der Tacho des SUV zeigt 120 Stundenkilometer. Die Bautrupps, die in einem rapiden Tempo den Fortschritt asphaltieren, haben eine vierspurige Schneise durch die Landschaft von Arunachal Pradesh, das Land des Sonnenaufgangs, geschlagen. Diese »neue Leichtigkeit« des Reisens wird ihren Preis haben.
Noch vor zehn, fünfzehn Jahren befand sich an diesem Ort dichter Urwald, war die Straße unfassbar schlecht. Nachts war fast kein Durchkommen, wegen kreuzender Elefantenherden. »Was hat die Straße gebracht?«, will ich von meinem Begleiter Asit Biswas wissen. Der Reiseführer zeigt aus dem Fenster. Neue Wohnhäuser, Schulen, Verwaltungsgebäude, kleine Supermärkte und Teegärten sind zu sehen. »Selbst die Einwohner sind neu: Bauarbeiter, Lehrer, Beamte, Händler.« Natürlich hätten auch Einheimische Arbeit gefunden, aber in erster Linie führte der Boom zum Zuzug aus anderen Teilen Indiens, aus Nepal und aus Bangladesch. Das Schema ist überall im Nordosten Indiens das gleiche.
Zeitenwende
»Die neue Straße bereitet den Weg für eine strahlende Zukunft«, verkündet ein Schild der Border Road Organisation. Es steht für das Selbstverständnis der Straßenbaubehörde, abgelegene Gebiete an den »Mainstream« anzuschließen. Doch der Hintergrund der Bautätigkeiten ist auch militärisch. Im Ernstfall soll die Armee rasch schweres Gerät und Nachschub in die Grenzregionen bringen können, auf die auch China Anspruch erhebt. Zudem erfordern gewaltige Wasserkraftprojekte im Hochgebirge ausreichend dimensionierte Zufahrtswege. Indiens schnell wachsende Bevölkerung möchte nicht länger im Dunkeln sitzen. Stromausfälle sind vor allem in abgelegenen Gebieten noch häufig.
Wir erreichen die kleine Kreisstadt Roing. »Nächstes Mal kann ich hoffentlich Eis anbieten«, sagt der Quartiergeber Dhature Muli, als er uns in seiner traditionellen Küche am offenen Feuer einen Drink einschenkt. Für den »Selfmade-man« vom Stamm der Idu-Mishmi wäre es einfach zu teuer, einen Gefrierschrank mit dem Generator zu betreiben. Voller Vorfreude erwartet er die Dauerelektrifizierung und wittert Chancen für mehr Handel und mehr Tourismus.
Etwas weiter südlich, nach vielen Stunden Fahrt durch unwegsames Gelände, treffe ich auf Phupla Singpho. Der hat eine ganz eigene Vision. Mit seiner Umweltorganisation »Seacow« betreibt er zwei kleine Hütten beim Dorf Miao, die er – wie er sich ausdrückt – an »gute Touristen« vermietet. Das sind meist Naturbegeisterte, angezogen vom angrenzenden Namdapha-Nationalpark, der Heimat von Tigern und Leoparden. Mit einigen Familien vor Ort will er ein »Homestay-Network« aufbauen und Privatunterkünfte anbieten. Wie das funktioniert, hat er sich als Teilnehmer an einem internationalen Programm zum Schutz der Berge in Nepal angeschaut. »Tourismus kann in diesem abgelegenen Teil des Landes eine wertvolle Option sein«, ist er sicher. Viele Junge wanderten mangels Perspektiven in die Metropolen ab. »Für unsere Volksgruppe der Singpho ist es zunehmend schwer, eine Stammesidentität zu bewahren.« Phupla sieht eine große Chance darin, dass deren Kultur für Besucher von Interesse ist.
Das Traditionsbewusstsein mag echt sein oder gespielt, die Realität kollidiert längst mit den Vorstellungen von Reisenden, eine von der »modernen Zivilisation« noch weitgehend »unverfälschte Lebensweise« vorzufinden. Smartphone und Satelliten-TV sind auch in »Tribal-Communities« längst selbstverständlich.
Auch im abgelegenen Nordosten Indiens sind die Veränderungen in der Gesellschaft längst nicht mehr aufzuhalten, sind Fluch und Segen zugleich. Bei der Suche nach Anschluss an die Moderne drohen filigrane soziale und ökologische Eigenheiten wegplaniert zu werden. Namdapha rühmt sich, Hotspot für Biodiversität zu sein. In einem Gebiet dieser Bedeutung wären der Dialog und die Einbeziehung der vielen hier lebenden ethnischen und religiösen Gruppen entscheidend für nachhaltige Lösungen und den inneren Frieden. Was für Indiens Politik längst nicht selbstverständlich ist, ist für Reiseleiter Asit bereits klar: »Conservation without the locals is nothing but conversation.« Ohne Beteiligung der Einheimischen ist jede Rede vom Naturschutz nur Geplapper. Für die Wahrung der kulturellen Identität gilt wohl dasselbe.